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Camera obscura 6x12

Camera obscura 6x12

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Camera obscura 6x12

"Ludmilla F (Fall 2301-F) habe ich aus der Psychiatrie von O.

übernommen. Sie litt an einer mentalen Agnosia. So hielt sie

eine schlafende Katze für einen Laib Brot, einen vorbeifahrenden

Wagen für eine Kuh, eine Straßenlaterne für einen Baum und so

weiter. Form und Größe der Gegenstände schienen eine nur vage

Orientierung zu bieten.

Im letzten Monat entdeckte ich eine bemerkenswerte Abweichung.

Während es ihr im wirklichen Leben nicht gelang, Gegenstände

zu bestimmen, konnte Ludmilla die Dinge zu meiner Überraschung

auf Photographien zweifelsfrei erkennen.


Dieser unscheinbare Moment, da ich bemerkte, daß Ludmilla im

Erkennen der Welt zwar scheiterte, deren Abbild jedoch richtig

zuordnen konnte, trieb eine Woge des Erschauderns durch mich.

Bemerkenswert und paradox rätselhaft zugleich, denke ich seit

Tagen darüber nach. Sollte dieses stille Erzittern eine dunkle

Vorahnung sein auf eine gewaltige Erschütterung dessen, was

wir zu wissen glauben? Ich hielt bislang unsere Sinne für

Außenposten des Geistes, Türme, hineingebaut in die Welt

zum ausspähen derselben. Sollte sich der Gedanke aufdrängen,

wir hätten es mit blinden Türmen zu tun? Dann würden die Dinge

nur so scheinen als Folge, weil wir sie derart beschreiben.

Wir dächten aber umgekehrt, daß unsere Beschreibungen sich

an den Dingen orientieren. Wie aber konnten wir jemals annehmen,

die Welt von unseren blinden Türmen aus zu sehen?

Ludmilla erkannte einzig die Photographien, so wurde sie unversehens

mahnender Rufer im Meer der Blinden, die sich für sehend halten.


Die Welt ist nicht daran interessiert, erkannt zu werden.

Es ist vollkommen unrelevant, aber es bleibt noch viel darüber

nachzudenken."


*
Dr. Gordon Mendenhall, Psychiater,
Tagebucheintrag vom 16. März 1926
*

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