Die Heilerin von Caldaion

Die Heilerin von Caldaion

Der Wind über dem Hiran-Plateau auf dem Planeten Caldaion war sanft und doch voller Stimmen. Er strich über die Dünen wie eine Erinnerung, die niemand ausgesprochen hatte, aber jeder in sich trug. Die Sonne war bereits hinter die Linien der fernen Felsen gesunken, doch die Wärme des Tages hielt sich im Sand – als wolle sie noch ein wenig bleiben, wie ein Gedanke, der sich weigert, zu gehen.
Vielleicht hatte alles damals begonnen. In jener Stunde ihrer Jugend, als sie einem der Wesen begegnet war, das die Alten ehrfürchtig „Geburtshelfer“ nannten. Ein stilles Gegenüber. Kein Lehrer. Kein Meister. Ein Spiegel ihrer Seele. In ihren Augen hatte sie sich selbst gesehen – nicht wie sie war, sondern wie sie werden sollte. Nicht vollkommen. Aber wahr.
Lyrana stand still. Ihre Hand – zögerlich, als wüsste sie um das, was kommen würde – ruhte an der Schläfe der alten Frau. Eine Berührung nur. Doch was sich öffnete, war kein bloßes Tor zur Haut, sondern eines zur Seele.
Dann kam das Leben. Nicht ihres. Ein anderes.
In sie hinein stürzten Bilder, Stimmen, Farben – ein Durcheinander aus Lachen und Stille, aus Verlust und Geburt. Sie spürte die Schmerzen bei der Geburt dreier Kinder, das Beben der Angst, das Zittern der Hoffnung, den stillen Triumph eines einzigen überlebenden Moments. Ein Kind im Regen – hilflos, suchend. Ein Blick, gehalten zu lange. Ein Bruder, der nicht zurückkam. Ein letztes Wort – und das Schweigen danach. Und dann: Weiterleben.
Es war, als ob ihr eigenes Inneres für einen Moment schweigend zurücktrat, um einem fremden Dasein Platz zu machen – ein Leben in Fetzen, das nicht ihr gehörte, aber nun in ihr wohnte.
Als sie die Hand zurücknahm, schwieg sie. Die alte Frau auch. Doch in ihrem Blick lag etwas, das sich nicht in Sprache fassen ließ – eine Erleichterung, weich wie Tau auf warmer Erde. Ein Teil von ihr war endlich gegangen. Ein Teil davon war nun in Lyrana.
Später saß Lyrana allein am Rand der Ebene, wo der Sand zu Stein wurde und der Himmel in rötlichem Schweigen verharrte. Ob die Tränen, die über ihr Gesicht liefen, ihre eigenen waren – oder die der Frau – wusste sie nicht. Vielleicht war das nicht wichtig. Vielleicht war es gerade das, was es bedeutete, zu heilen: Sich öffnen. Aufnehmen. Weitertragen.
Wieder erhob sich ein leiser Gedanke in ihr. Nicht laut. Nicht drängend. Eher wie ein inneres Wissen,, vorsichtig, fast scheu, wie ein Tier.
Ihr Planet Caldaion hatte ihr diese Gabe nicht zufällig geschenkt. Nicht aus Laune. Nicht als Prüfung. Sondern als Teil eines stillen Vertrages, geschlossen mit ihrer Seele, lange bevor sie geboren war.
Dass ihre Fähigkeit, fremde Freuden und Schmerzen zu sehen – und zu tragen – nicht Fluch war, sondern ein Weg. Ein Weg zu sich selbst. Und zur Welt.

Eine Fortsetzung meiner Caldaion Serie, die das Schicksal von Menschen auf dem Planeten Caldaion beschreibt, nachdem ihre Vorfahren vor Jahrhunderten auf diesem Planeten notlanden mussten.