Alfons Gellweiler


Premium (Pro), Aalen (BW)

Blende acht, die Sonne lacht

alles analog

Blende acht, die Sonne lacht
Blende acht, die Sonne lacht
Alfons Gellweiler


***

(1984) Von dem Rastplatz aus hatte man einen herrlichen Ausblick auf ein weit sich ausdehnendes Tal, einen überaus friedlich wirkenden Ort. Weiden, auf denen zwischen Lamas, Alpakas und Schafen vermutlich Landarbeiter sich bewegten, erstreckten sich auf dem Talgrund so weit das Auge schauen konnte. An den Rändern im Norden, wo das Land sanft nach oben sich wölbte, waren zwischen grün und braun changierenden, umbrafarbenen Ackerflächen gelbe Getreidefelder eingewoben. Ein Eukalyptuswald, der in östliche Richtung sich erstreckte, bildete eine Art natürlicher Begrenzung im Süden. Und inmitten dieser Herrlichkeit fanden sich die zu einem Quadrat geordneten Wirtschafts- und Wohngebäude einer auch aus der Ferne beeindruckenden Hazienda, in deren Mitte ein Innenhof eingebettet lag, auf dem Richard neben zahlreichen angebundenen Pferden auch parkende Geländewagen vor einem umlaufenden Arkadengang zu erkennen glaubte.
An Brigitte gerichtet, die neben ihm mit einer Cola in der Hand ebenfalls den Blick und die Ruhe zu genießen schien, suchte er unter dem Eindruck dessen, was er sah, noch einmal das Gespräch des vergangenen Abends aufzunehmen.
»Liegt die Ursache all dieser Gewalt, von der du gestern sprachst, nicht eigentlich hier begründet, in diesem Wohlstand, in dem hier einige Wenige leben, während zwanzig Kilometer weiter und tausend Meter höher die Familien der hart arbeitenden Indios gerade so über die Runden kommen? Und wie es den Campesinos, die für den Besitzer da unten arbeiten müssen, ergeht, wissen wir nicht. Sind nicht diese in Perú so offen zu Tage tretenden Ungerechtigkeiten die Ursache für die Gewalt? Und ist nicht die Regierung, die diese Ungerechtigkeiten zulässt, auch verantwortlich für die gewaltsam sich äußernde Form des Widerstands? Geht die Gewalt nicht in Wirklichkeit von diesen Feudalherren da unten aus?«
»So haben wir gelernt zu denken. Und ich will dir auch nicht generell widersprechen. Im Ansatz klingt das plausibel, was du sagst. Aber nehmen wir mal an, die Terroristen würden diese Hazienda, auf die wir gerade schauen, niederbrennen, was würde das an der bestehenden Ungleichheit ändern? Sie würde womöglich noch größer. – Und ist diese Ungleichheit gleichbedeutend mit Ungerechtigkeit? Dazu gibt es doch keine verlässliche Antwort. Vielleicht musste der Großgrundbesitzer hart arbeiten, damit die Besitzlosen ihm nun mit Neid begegnen können. Wir wissen das nicht. Gerechtigkeit! – Was ist das.? – Ein leerer Wahn ist das. Und ist die Ungleichheit bei uns in Deutschland nicht sehr viel größer? Wir sehen sie nur nicht so deutlich wie hier.«
»Aber auch die ärmeren Menschen haben doch bei uns in aller Regel eine Wohnung, sie haben genug zu essen, sie können zur Schule gehen, sie werden im Krankheitsfall versorgt ...«
»Das ist bei uns doch nicht deshalb so, weil eine Guerilla Bomben gelegt oder Menschen ermordet hat«, fiel Brigitte ihm ins Wort. »Es ist nicht das Bedürfnis, eine gerechtere Welt – was immer das sein sollte – zu schaffen, das Menschen zu Mördern oder Brandstiftern werden lässt. – Ihr habt vielleicht auch in der Schule Michael Kohlhaas von Kleist gelesen. Wenn nicht, musst du es nachholen. Dort findest du Antworten. – Ich suche schon lange Antworten. Nur in einem bin ich mir mittlerweile ganz sicher, es geht Kohlhaas und Stalin und Mao und Guzmán letztlich nur um ihr Ego, nicht um eine bessere Welt. Für ihr Ego möchten sie die alte, ungerechte Welt niederbrennen, um auf den Trümmern selbstgerecht vor dem Auge dieser Welt eine Havanna rauchen zu können. – Du hast doch auch ’ne Leica, hab’ ich gesehen. – Kohlhaas besaß im Unterschied zu unzähligen Monstern aus dem richtigen Leben immerhin Größe.«
»Was meinst du damit, dass ich auch ‘ne Leica habe?« »Vergiss es!« lachte sie. »Der Busfahrer hupt. Er will weiter.«

https://www.epubli.com/shop/blende-acht-die-sonne-lacht-9783757561925

https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1069039927

Comentarios 16

  • Norbert Borowy 30/06/2023 15:59

    der Lauf der Dinge und Menschen
  • Thomas Tilker 30/06/2023 8:36

    Ein weiteres Häppchen, welches die Spannung erhöht...beim Foto muss ich fast an Werner Bischof denken...
    LG Thom
    • Alfons Gellweiler 30/06/2023 11:30

      Vielen Dank.
      Zu der Zeit, als ich dieses Photo aufgenommen habe, war ich stark beeindruckt von den Bildern von Enrique Bostelmann. Mehrmals habe ich mir den Bildband »América – Bilder einer via misera« in der Stadtbücherei in Mülheim ausgeliehen und die Photos aufgesogen. Vor einigen Jahren habe ich mir den Bildband dann noch antiquarisch erworben.
  • Hans Jürgen Schmidtjever 29/06/2023 19:54

    Deine Landschaftsschilderung ist geradezu altmeisterlich gelungen.Der Meinungsaustausch : gedanklich ausgewogen und bildgesättigt
    Alfons, ich gratuliere!
    Gruß von Hans Jürgen
    • Alfons Gellweiler 29/06/2023 23:39

      Vielen Dank für deine lobenden Worte. Ich bin ja alt und orientiere mich auch bevorzugt an alten Meistern. ;-)
  • Skat 29/06/2023 16:20

    Interessant, Du kannst nicht nur Fotos aber auch das Zeug zum schreiben...
    Gruß Skat
  • Mario Fox 29/06/2023 16:19

    Dein Bild hat Witz: Mal anders als sonst aufgereiht: Diesmal die Kleinen zuerst ;.)
    Zum Text: Schön geschrieben, aber: Liegt hier nicht eine Verwechslung  oder unzulässige Gleichsetzung von Zielkonflikt mit Strategiekonflikt vor?
    • Alfons Gellweiler 29/06/2023 16:42

      Vielen Dank.

      In diesem Ausschnitt wird ja ein Gespräch vom Vorabend wieder aufgegriffen, insofern mag hier etwas unklar bleiben. Es geht in der Unterhaltung ursprünglich um die Frage, ob die Terroranschläge der marxistisch-leninistischen Partei Perus in den achtziger Jahren (die beiden reisen zu dieser Zeit und erleben die Gewalt), zu rechtfertigen sind mit Elend und Ausbeutung im Land. Ein fiktives Gespräch während einer Busfahrt darf natürlich kein wissenschaftlicher Diskurs sein.

      Das mit der unzulässigen Gleichsetzung von Ziel- und Strategiekonflikt verstehe ich nicht.
    • Mario Fox 29/06/2023 17:40

      Falls ich den Dialog nicht missverstanden haben sollte: Es geht darum,  mehr Gleichheit (im rechtlichen Sinn) zu erzielen oder präziser um Gerechtigkeit, noch präziser um Verteilungsgerechtigket- das wäre das erwünschte ZIEL.
      Guerilla oder terroristische oder anderweitige Gewalt wäre das hier herangezogene Mittel oder eben die STRATEGIE zur Erreichung des an sich guten Ziels. Da die hier erwähnten Mittel oder Strategien zu Recht verurteilt werden, ist damit ja nicht auch das ZIEL verurteilenswert. Also: Mit der Verurteilung der STRATEGIE kann man nicht gleichzeitig das ZIEL beurteilen.
      Der auch bei uns geläufige , aber m.E. fatale Spruch: "Der Zweck heiligt die Mittel", führt eben oft zu noch mehr Desaster.
      An dem Begriff "Gerechtigkeit" kann man sich zwar abarbeiten, aber fallenlassen sollte man den Begriff keinesfalls, sonst verfällt eine Gesellschaft in Zynismus.
      "Gerechtigkeit" mag einen weiten Deutungshorizont aufweisen, aber man kann "Gerechtigkeit" nicht ohne "Gleichheit" (i.S. v. gleich "vor dem Gesetz") denken.
      Außerdem kann man den Begriff "Gerechtigkeit" durchaus objektivieren, bzw. operationalisieren, wie es beispielsweise Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrem bahnbrechenden Werk : "Gleichheit ist Glück" (Zweitausendeins, 2009) getan haben.
    • Hans Jürgen Schmidtjever 29/06/2023 19:57

      Tiefschürfend und einleuchtend dargestellt!
    • Alfons Gellweiler 29/06/2023 23:31

      Ich möchte mich nicht in den fiktiven Dialog der beiden Figuren einmischen und auch nicht zu viel aus der Erzählung verraten.
      Nur so viel: Um Gleichheit vor dem Gesetz im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft geht es nicht primär in dem Gespräch. Die beiden erleben in den achtziger Jahren den Terror der Bewegung »Leuchtender Pfad«, für die ganz in der Tradition marxistisch-leninistischer Ideologie notwendigerweise tatsächlich das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft jedes Mittel heiligt. Diesem Ziel ist die Gewalt als Strategie immanent; das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Oder wie Karl Raimund Popper schreibt: »Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produziert stets die Hölle.«
      Brigitte urteilt überdies vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen zu Hause in Deutschland.
  • Guess whA 29/06/2023 16:16

    Super!
    Bin direkt mittendrin und folge der philosophischen Diskussion mit Spannung.
  • Artur Feller 29/06/2023 15:33

    Artur lacht - vor acht!

    Sehr schön aufgereiht die vier im Bilde.

    Grüße
    Artur