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Gedanken am Meer.

Gedanken am Meer
Viele Figuren, die sich in vergangene Zeiten zurück sehnen, spült der Zeitgeist aus den Untiefen der Gesellschaft an die Oberfläche, dort machen sie sich breit wie ein Ölfilm über dunklem Wasser, lassen keinen Sauerstoff mehr durch und verhindern die Sicht auf den Grund. Sie plustern sich auf wie Pfauen und sind doch farblos wie ein grauer Nebel, der sich senkt auf jede Stadt, jedes Dorf und jedes Haus. Und auf mein Gemüt. Ich wende mich schaudernd ab, und weiß doch, dass es kein Entrinnen gibt.
Denn ich selber bin Zeitgeist, bin Gast meines Jahrhunderts, rege mich auf und ab in den Gegenden von Lüge und Wahrheit, zwischen Starrsinn und Frohsinn, zwischen Hammer und Amboss, Freunden und Feinden, offline und online.
Irgendwann bin ich in den Fluss der Zeit gesprungen, als man aufhörte, mit offenen Karten zu spielen und stattdessen verlangte, Farbe zu bekennen. Ich weiß nicht mehr das Jahr und den Ort. Alles nahm da seinen Anfang. Mich umgaben Menschen mit ihren stillen und lauten Erwartungen, mich umgaben Organisationen mit ihren Bestimmungen, Ordnungen, Satzungen und Verboten, mich umgaben Politik, Religion, Errungenschaften von technischer Intelligenz und anderen Klugheiten, gute und schlechte Manieren, Verdienste und Verrisse, Lobhudeleien und Schmähungen. Alles nagte und nagt noch immer an mir wie die tausenden kleinen Piranhas in den Flüssen des amerikanischen Südens. Sie nagten und nagen mir am Herzen, am Verstand, am Magen, den Eingeweiden und an den Nerven. Alles fressen sie blank und blitzsauber. Nichts außer dem weißen Gerüst bleibt mir, makellos für den Jüngsten Tag. Und dieses Knochengerüst muss ich nun tragen ohne Muskeln, ohne Blut und Herzen, ohne Verstand und Vergnügen. Ich kann nur sagen, liebe Leute, steigt nie in einen Fluss. Er reißt euch die Gedärme aus, knabbert an Euch bis ans Ende eurer Tage und wird nichts übrig lassen von euren kümmerlichen Weichteilchen, die ihr einst schätztet in jungen Jahren.
Meine Oberfläche ist weniger dramatisch. Denn eigentlich bin ich ein fröhlicher Mensch, der, wie man so schön sagt, das Beste draus macht. Ich liebe Holunderblüten, eingelegt im Sud von Minze, ich mag den Wellenschlag in der Lagune Venedigs, ich bin erstaunt über den Glanz des Himmels nach dem Gewitter, freue mich über jede freundliche Bedienung und muss, um mich glücklich zu fühlen, lediglich die ersten Frühlingskartoffeln salzen und in Kräuterbutter dippen. Mich erfreuen noch immer die Metamorphosen von der Traube zur Rosine und später zum Wein. Und wenn nach einem strengen Tag frische Bettwäsche aufgezogen ist und im Radio Nada te turbe als kleine Nachtmusik gespielt wird, vergesse ich alle Piranhas, samt allen Putins und Trumps dieser Welt. Wie früher fliegen die leichten Gedanken von warmen Winden getragen, und mir scheint, sie fliegen über die Kanäle Amsterdams, entlang der dalmatinischen Küste, die, unter uns, zu den schönsten Landschaften Europas gehört, und sie fliegen durch die Pforten des Louvre auf die Spitze der Glaspyramide bis jenseits der großen vertrockneten Salzseen Tunesiens, wo sie in Kairouan kurz niederknien. Mein zerfledderter Atlas aus Kindertagen weist den Weg noch in ganz andere Gefilde. Es scheint an meinem Schicksal zu liegen, meine Vertrautheit mit der Welt in fernen Orten zu suchen, vielleicht auch zu finden. Wenn es denn überhaupt noch Vertrautheiten geben kann. Das lasse ich mal offen – es tickt die Uhr und man fühlt sich mit 70 nicht mehr auf der Höhe, nicht wahr?

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