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Antje Kirchhoff


Free Account, Kloster Lehnin

(M)Ein Leben 2

Dieses Gedicht schrieb eine alte Frau, die seit langem in einem Pflegeheim in Schottland lebte und von der man meinte,sie sei desorientiert. Man fand es nach ihrem Tod bei ihren Sachen...



Was seht Ihr, Schwestern?

Denkt Ihr, wenn Ihr mich anschaut: Eine mürrische alte Frau, nicht besonders schnell, verunsichert in ihren Gewohnheiten, mit abwesenden Blick, die ständig beim Essen kleckert, die nicht antwortet, wenn ihr sie anmeckert, weil sie wieder nicht pünktlich fertig wird.
Die nicht so aussieht, als würde sie merken was ihr macht und ständig den Stock fallen läßt und nicht sieht wo sie geht, die willenlos alles mit sich machen läßt: füttern, waschen und alles was dazu gehört.
Denkt ihr denn so von mir, Schwestern, wenn ihr mich seht, sagt? Öffnet die Augen Schwestern! Schaut mich genauer an! Ich soll euch erzählen, wer ich bin, die hier so still sitzt, die macht, was ihr möchtet und ißt und trinkt, wann es euch passt?
Ich bin ein zehnjähriges Kind mit einem Vater und einer Mutter, die mich lieben und meine Schwester und mein Bruder.
Ein sechzehnjähriges Mädchen, schlank und hübsch, die davon träumt, bald einem Mann zu begegnen.
Eine Braut, fast zwanzig, mein Herz schlägt heftig beim Gedanken an die Versprechung, die ich gegeben und gehalten habe.
Mit fünfundzwanzig noch habe ich eigene Kleine, die mich zu Hause brauchen.
Eine Frau mit dreißig, meine Kinder wachsen schnell und helfen einander.
Mit Vierzig, sie sind alle erwachsen und ziehen aus. Mein Mann ist noch da und die Freude ist nicht zu Ende.
Mit Fünfzig kommen dir Enkel und sie erfüllen unsere Tage, wieder haben wir Kinder - mein Geliebter und ich.
Dunkle Tage kommen über mich, mein Mann ist tot. Ich gehe in eine Zukunft voller Einsamkeit und Not.
Die Meinen haben mit sich selbst genug zu tun, aber die Erinnerungen von Jahren und die Liebe bleiben mein.
Die Natur ist grausam, wenn man alt und krumm ist und man wirkt etwas verrückt.
Nun bin ich eine alte Frau, die ihre Kräft dahinsiechen sieht und deren Charm schwindet. Aber in diesem alten Körper wohnt immer noch ein junges Mädchen, ab und zu wird mein altes Herz erfüllt.
Ich erinnere mich an meine Freuden, ich erinnere mich an meine Schmerzen und ich liebe und lebe mein Leben noch einmal, das allzuschnell an mir vorbeigeflogen ist und akzeptiere kühle Fakten, daß nichts bestehen kann.
Wenn ihr eure Augen aufmacht Schwestern, so seht ihr nicht nur eine mürrische alte Frau.

Kommt näher, seht MICH!


Mich berührt dieses Gedicht sehr und ich bekomme jedes mal beim Lesen eine Gänsehaut.
Auf dem Foto seht ihr Frau L. Sie ist mir schon viele Jahre anvertraut und ans Herz gewachsen. Meistens lebt sie in einer ganz fernen Welt aber sie hat immer wieder Momente des Glüks und der Freude, wenn man sich ihr intensiv und liebevoll zuwendet.

Weitere Informationen und Erläuterungen findet Ihr unter meinen ersten beiden Foto aus dieser geplanten Reihe zum Thema Demenz:

(M)Ein Leben
(M)Ein Leben
Antje Kirchhoff
und
(M)Ein Leben 1
(M)Ein Leben 1
Antje Kirchhoff

Comentarios 11

  • Doris Kühle 13/09/2010 18:29

    Eine Aufnahme, die ohne den Text zwar erahnen läßt aber mit unheimlich viel rüberbringt.

    Das Gedicht der alten Dame aus Schottland berührt und macht mir wieder mal unmissverständlich klar, dass die Pflege nicht mehr das ist, was sie mal war und viel zu wenig Zeit für den Menschen bleibt.
    Aber auch die Familie ist nicht mehr das, was sie mal war - oder nur noch in sehr wenigen Fällen - ich möchte nicht alle über einen Kamm scheren.
    Die Menschlichkeit, das Miteinander für das wirklich Wichtige im Leben fehlt.
    Das Kinderbuch Momo umschreibt es passender.

    Eine sehr starke Serie für ein verdammt schweres Thema.

    Lieber Gruß
    Doris
  • Ilse Jentzsch 13/09/2010 10:08

    Diese wundervolle Geschichte habe ich auch zum ersten Mal in einem Altenpflegeheim gelesen.
    Deine Serie ist wundervoll - hier wird nicht ausgegrenzt, Du zeigst die Realität, Deine Fotos lassen den alten Menschen ihre Würde und man erkennt die Zuneigung, die Du den Dir anvertrauten Menschen entgegen bringst.
    Es grüßt Dich
    Ilse
  • Günter von Fleisbach 12/09/2010 17:54

    Hut ab!
    Herzlichst Günter
  • Helga Heinz 10/09/2010 23:58

    Eine Geschichte,die ans Herz geht....eine Frau,verehrungswürdig......und Du...hast meine Hochachtung.

    Herzlichen Gruß
    Helga
  • Herbert Rieger 05/07/2010 19:09

    Das kommt leider oft vor, darum müssen wir es bedenken. Es muß aber längst nicht immer so traurig enden. Ältere Menschen sollen darum Gelegenheit haben auch aktiv mitzumachen, so lange es möglich ist. Man soll diese Menschen einbeziehen und entsprechend ermuntern. Hier habe ich ein gutes Beispiel dafür gefunden.
  • jimmyshadow 04/07/2010 11:13

    Sehr berührende Geschichte Antje,wenn man sie als Mensch etwa ältern Datum`s liest,so Spiegelt sie doch Dein eigens Leben wieder,sie ist zwar nicht authentisch,das wäre ja schlimm,aber sie hat die gleiche Strucktur wie das Leben auf unserem Breitengrad abläuft..
    glg jimmy
  • Stefan Turowski Photography 04/07/2010 10:43

    Ein wirklich berührender Text - macht nachdenklich.

    Zum Bild:
    Eine beeindruckende Darstellung.
    Faszinierende und perfekte Umsetzung des Themas.

    Liebe Grüße,
    Stefan
  • † Ushie Farkas 03/07/2010 0:32

    SEHR STARK, SEHR BERÜHREND!!! DANKE für den Text! Man sollte ihn in jedes Heim hängen!! Gruß Ushie
  • Klaus-Dieter Jänicke 02/07/2010 22:38

    Den Text hast Du sehr eindrucksvoll fotografisch umgesetzt. Gut, daß es Menschen gibt, die solchen Hilfebedürftigen das Leben erleichtern - sie haben meine volle Hochachtung...
  • Peter Schürholz 02/07/2010 19:21

    Ich bin sehr beeindruckt, Antje. Foto und Text besonders wertvoll!

    LG Peter
  • Herbert Rieger 02/07/2010 18:42

    Genau so kommt es auf jeden Menschen zu - das Alter.
    Unaufhaltsam, erbarmungslos, aber auch gnädig.
    Auch im eigenen Interesse sollen wir mit diesen Menschen einen achtsamen Umgang pflegen, dabei können wir viel lernen. Es wird auch uns später helfen.