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Mittwochsleichen 91: Die Toten von Verdun

Mittwochsleichen 91: Die Toten von Verdun

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RinaldoG


Premium (World), Immenstadt

Mittwochsleichen 91: Die Toten von Verdun

Bronzeplastik von Georg Bentele-Ücker, 1996.
Heimatmuseum Oberstaufen, 10.06.2018

Text von Rinaldo, long time ago:

MOURIR ET AIMER
„Schut!“ Der Führer heischt um Aufmerksamkeit. Plappern und Gelächter verstummen. Dann gibt er einen langgezogenen, tiefbrünstigen Schrei von sich, der in den Gewölben widerhallt.
„C’est comme ça qu’il faut s’imaginer qu’ils ont crié au moment où ils sont morts“, erklärt er, nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme, bevor er uns durch ein vergittertes Fenster Einblick gewährt ins Ossuaire von Fort Douaumont, wo die Gebeine Tausender von Soldaten unaufgeräumt durcheinanderliegen.
Touristenattraktion.
La tranche des Baïonnettes: Bajonettspitzen ragen aus der Erde, unterirdisch gehalten von Skeletten, die zu jungen Männern gehören, welche, im Graben Wache haltend, von deutschem Senfgas überrascht wurden. Man schüttete den Graben mit den stehenden Leichen ebenerdig zu.
Nur die Bajonettspitzen legen noch Zeugnis ab.
Remarque: Im Westen nichts Neues (?)
Als eine der ersten Städte in Deutschland hat mein Heimatort eine Partnerschaft mit einer Stadt in der Normandie begründet.
Mit der Blasmusik fahren wir hinüber. Ich kann fast kein Wort Französisch. Zwar habe ich zwei Monate Wahlunterricht bei einem frankophilen Bajuwaren genossen, aber dann ist der gestorben.
Der Empfang ist herzlich, die Luft erfüllt von zumeist unverständlichen Lauten, irgendwie trifft sich, wer zu wem gehören soll, denn wir werden in Gastfamilien untergebracht.
Nur der alte Mann aus dem Nachbarhaus verläßt, als er mich sieht, seinen im Hof stehenden Korbsessel und verschwindet im Dunkel seines Hauses. - Später, als ich besser Französisch kann, erfahre ich, daß er seine beiden Söhne im Krieg verloren hat, aber da muß er den Hof auch nicht mehr verlassen, wenn er mich sieht.
Damals habe ich andere Dinge im Kopf. Man hat ein buntes Programm organisiert. Wir absolvieren unser obligatorisches Konzert, ansonsten sind wir auf Achse, am Nachmittag, aber auch am Abend.
„Vous voulez la clé?“ fragt mich mein Monsieur.
Ich weiß nicht, was ich antworten soll.
“La clé, vous savez, pour rentrer plus tard ce soir ...”
„Le soir“ kenne ich. „Oui, oui, soir, danser ...“
„Mais oui“, sagt er, „vous voulez la clé?“
“La clé, qu’est-ce que c’est?”
Er lacht und hält mir den Hausschlüssel hin.
„Oui, oui“, lache ich zurück und greife zu. „Merci.“
Nun weiß ich, daß ich diese Sprache lernen muß, wenn ich mich hier frei bewegen will.

Beim Tanzen braucht man nicht viel zu reden, der Kontakt kann anderswie hergestellt werden. Das ist gar nicht so schwierig, und die Mitteilungen strömen durch den ganzen Körper und bringen einiges in Bewegung. Das Hirn interpretiert die Bewegung: Das ist „amour“.
„Quel est ton nom?“ Das kann ich schon.
„Nicole.“
„Je suis Reinhard. Je t’aime, Nicole.“ Diese Formel habe ich sicherheitshalber in Deutschland erfragt und gelernt; beim frankophilen Bajuwaren hatten wir sie nicht gehört.
Beim Abschied fließen Tränen. Man spricht nicht viel, kann nicht viel sprechen, weil man sich gegenseitig den Mund verschließt.
Dann schlägt Nicole vor: „Tu m’écris une lettre?“
Lettre, lettre ... litterae, litterarum, der Brief, meint sie das?
Ich mache die Handbewegung des Schreibens.
Sie nickt.
„Oui, oui, naturellement.“
Die gravitätische Ausdrucksweise stört sie nicht, ich weiß es ja nicht besser.

Muß ich erwähnen, daß wir uns tatsächlich schrieben, daß das französische Wörterbuch eines meiner Lieblingsbücher wurde, daß die räumliche Distanz von 1000 Kilometern das Hirn veranlaßte, die einmal getroffene Interpretation aufrechtzuerhalten, ja in größere Dimensionen zu steigern, daß die Anrede infolgedessen, mittels Wörterbuch, sich von „Chère Nicole“ über „Ma chère Nicole“ zu „Ma chérie“ weiterentwickelte, daß die Schlußformel „Amicalement“ zu „Je t’embrasse“ bzw. „Je t’embrasse mille fois“ sich steigerte?
Muß ich erwähnen, daß wir uns tatsächlich noch einmal trafen, daß wir uns zu der Zeit bereits recht gut auf französisch verständigen konnten, daß aber, irgendwie, die reale Begegnung in einem gewissen Kontrast stand zum in der Ferne geformten Bild?

Ich studierte trotzdem Französisch, und heute stehe ich in der Klasse, mache mehrfach „Schut!“, und Plappern und Gelächter verstummen allmählich, und dann frage ich einige unregelmäßige Verben ab, wie zum Beispiel „mourir“: il est mort, il meurt, il mourra, weil „aimer“, grammatikalisch gesehen, nix hergibt.





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